Es ist der 11. Dezember 2024. Die Kälte griff wie ein stiller Jäger nach den Felsen des Hohen Atlas. Mein Isuzu D-Max stand an einem einsamen Platz, hundert Höhenmeter oberhalb einer namenlosen Passhöhe. Auf 2.400 Metern Höhe war die Luft klar und dünn, der Horizont unendlich. Unter mir, weit im Dunst, lag das Dorf Issoual, nur als vager Schatten erkennbar. Der Halbmond hing hoch am Himmel, sein Licht goss sich über die schroffen Gipfel und verlieh der Szenerie einen ätherischen Glanz.
Es hatte -2 Grad, und obwohl die Dieselheizung 20 Minuten leise vor sich hin tickte, spürte ich die Kälte in den Knochen. Sie hielt sich hartnäckig in den Ecken der Kabine, kroch unter den Schlafsack und machte die Nacht spürbar. Ich ließ die Heizung noch ein paar Minuten laufen, gerade lange genug, um die Trenntoilette nutzen zu können. Ein banaler Komfort, der mich für einen Moment an die moderne Welt erinnerte, die hier oben so fern schien.
Als ich wieder in den Schlafsack kroch, wurde die Stille greifbar – eine unheimliche, schwere Stille, wie sie nur diese Berge kannten. Doch es war keine absolute Stille. Irgendwo tief in der Nacht schien der Wind Geschichten zu flüstern, alte Geschichten, die in einer Sprache erzählten, die die Menschen vergessen hatten, die jedoch in den Felsen weiterlebte.
Plötzlich war da ein Laut. Ein dumpfes Dröhnen, das durch den Boden kam, als würde der Berg selbst sich bewegen. Es war nur ein Moment, dann war es vorbei, aber es hinterließ eine Schwere in der Luft. Ich öffnete das kleine Fenster der Kabine und starrte hinaus. Der Mond warf sein Licht auf die Geröllfelder und die zerklüfteten Berghänge, aber alles war still. Zu still.
Ich schloss das Fenster und versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht war es nur die Ausdehnung des Gesteins in der Nachtkälte.
Irgendwo bellte ein Hund, denn in Marokko bellt immer irgendwo ein Hund. Ein einsamer Laut in der stillen Weite. Doch es klang nicht wie ein gewöhnliches Bellen – es war ein Warnruf, ein Signal, das durch die Nacht schnitt. Ich hielt den Atem an und schaute durch das kleine Fenster der Kabine hinaus. Da war nichts, nur das silberne Licht des Mondes und die tanzenden Schatten der Felsen. Aber tief in mir wusste ich, dass etwas dort draußen war, etwas, das mich beobachtete.
Es klang wie ein Ruf, getragen vom Wind, ein Klang, der zwischen den Gipfeln tanzte und in den Tälern widerhallte.
Ich spürte die Anwesenheit von etwas – nicht feindselig, aber auch nicht freundlich. Es war einfach da, uralt und geduldig, wie ein Teil des Berges selbst. Issoual lag im Dunst, ein Lichtpunkt, der nicht zu dieser Welt zu gehören schien. Ich fragte mich, ob die Menschen im Dorf diese Stimmen hörten, ob sie wussten, welche Geheimnisse ihre Berge verbargen.
Ein schwaches Zittern ging durch die Kabine, ein Kribbeln im Nacken. War es nur der Wind? Oder war es mehr?
Ich starrte in die Dunkelheit und lauschte, aber die Welt draußen blieb stumm.
Es dauerte Minuten, bis ich schließlich in einen ruhigen Schlaf fiel. Als ich die Augen öffnete, leuchteten die ersten Strahlen der Morgensonne über die Gipfel. Der Spuk der Nacht war verschwunden, die Welt wirkte wieder real. Doch etwas in mir hatte sich verändert. Der Pass ohne Namen hatte etwas hinterlassen – einen Hauch von seiner alten Seele, die immer noch über den Felsen schwebte.
Als ich den Motor startete und den Weg hinunterrollte, warf ich einen letzten Blick zurück. Die schroffen Gipfel des Hohen Atlas ragten stoisch in den Himmel, als hätten sie nie etwas preisgegeben. Aber ich wusste es besser. In dieser Nacht hatte der Berg gesprochen. Und ich würde die Worte nie vergessen.
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