150 % Interimmanager – und dann?

Wer als Interimmanager arbeitet, weiß: 100 % Einsatz reicht meist nicht. Man muss schneller denken, klarer entscheiden, härter verhandeln, länger durchhalten.

150 % – das ist die Währung, in der wir liefern. Nicht einmal, nicht zweimal – sondern über Jahre hinweg.

Man lebt im Takt von Projekten, Deadlines, Ergebnissen. Man zieht in fremde Organisationen wie ein Notarzt in den Operationssaal.

Man geht hinein, wenn es brennt, und geht wieder, wenn die Flammen gelöscht sind. Und zwischen den Einsätzen?

Da gibt es kein "zwischen". Denn ein Interimmanager lebt nicht in der Leere zwischen Aufträgen – er lebt im Auftrag selbst. So war es auch bei mir. Über mehr als zwanzig Jahre lang. Ich war der, der kam, wenn andere nicht mehr konnten oder wollten. Der, der das Ruder übernahm, wenn die See rau war. Der, der in Rekordzeit Erfolge liefern musste, ohne das Luxuspolster langer Einarbeitung.

Und ja – ich habe es geliebt.

Bis ich eines Tages merkte, dass die Rollen, die man spielt, nicht unendlich halten.

Die Entscheidung 

Es war keine spontane Laune. Kein „Jetzt reicht’s“. Es war eine Entscheidung, die in mir gereift ist. Und es war der Tod meiner Frau, der sie endgültig gemacht hat. Plötzlich war da diese brutale Erkenntnis: Das Leben ist endlich und kann in 14 Tagen zu Ende sein. Und Pläne – so groß, so ehrgeizig sie auch sind – können in einem Atemzug verschwinden.

Ich hatte über Jahre Pläne geschoben, Träume auf später verschoben, mir eingeredet: „Irgendwann mache ich das.“ Doch „irgendwann“ ist ein gefährliches Wort. Es riecht nach Zeit, die man vielleicht gar nicht mehr hat.

Also habe ich aufgehört. Bewusst. Nach 22 Jahren. Von einem Tag auf den anderen. Kein langsames Ausklingen, kein halber Abschied. Ein Schnitt. Und mit diesem Schnitt kam die Stille.

Kein morgendlicher Blick mehr in Projektpläne. Keine Strategie-Meetings. Keine E-Mails im Hotel, die einen noch vor dem ersten Kaffee in den Kampfmodus versetzen.

Das Loch

Man spricht oft vom „Tätigkeitsloch“. Ein Wort, das zu harmlos klingt für das, was tatsächlich passiert. Denn dieses Loch ist nicht nur Leere – es ist ein Vakuum. Es zieht an dir. Es saugt Energie, Richtung, Identität.

Jahrelang war ich der Interimmanager. Eine Berufung, die nicht nur Arbeit, sondern auch Selbstdefinition war. Und dann plötzlich – nichts. Leere. Ein leerer Terminkalender, ein leeres Postfach und keine Anrufe mit Hiobsbotschaften beim Hotelfrühstück.

Man kann nur dann loslassen, wenn man sich mit einer neuen Rolle identifiziert. Sonst bleibt das Loslassen ein halber Schritt, ein Schwebezustand. Ich wusste: Ich brauchte eine neue Aufgabe, etwas, das nicht nur meine Zeit füllt, sondern meine Seele. Etwas, das mich morgens aus dem Bett holt. Etwas, das wieder meine neue Rolle ist.

Die neue Währung

Meine neue Währung heißt: Zeit. Nicht Minuten, nicht Stunden – sondern unbegrenzte Zeit. Keine Rückreise-Tickets, keine fixen Meetings, keine künstlichen Deadlines. Ich fülle dieses Konto mit meinem Hobby – dem Reisen. Nicht zwei Wochen Urlaub. Sondern Wochen, Monate, ohne den Druck, irgendwann umkehren zu müssen.

Mein Isuzu D-Max, eine Geocamper-Kabine, mein Hund Castor – das ist jetzt mein Büro, mein Zuhause, meine Kommandozentrale.

Und meine Projekte?


Die heißen nicht mehr „Restrukturierung“ oder „Marktöffnung“. 
Sie heißen „Russland im Winter“, „Armeniens Hochland“, „Lappland am Polarkreis“. Weite, die atmet. In Russland habe ich gelernt, dass Karten täuschen. Man sieht eine Straße, einen Ort, vielleicht einen Namen – doch in Wirklichkeit ist es Raum. Endloser Raum.

Man fährt stundenlang und sieht nur Himmel, Steppe, manchmal eine alte Tankstelle, an der man mehr Tee als Benzin bekommt. Und Menschen, die einen ansehen, als hätte man den halben Kontinent durchquert, nur um sie zu treffen. Sie laden dich ein, ohne Fragen zu stellen. Die Gastfreundschaft dort hat eine Tiefe, die man in Europa oft vergessen hat. Nicht, weil sie müssen – sondern weil sie wollen.

In Armenien habe ich gespürt, wie das Land selbst Geschichten erzählt. Staubige Wege, die sich an Berghänge klammern, Hirtendörfer, in denen Zeit anders fließt. Die Menschen teilen mit dir, was sie haben – und manchmal ist das nicht mehr als Brot, Käse und ein Glas selbstgebrannter Wodka. Aber es wird dir gereicht, als wärst du ein Staatsgast.

Manchmal sitze ich da, höre einem alten Hirten zu, wie er von seinen Sommern in den Bergen erzählt, und denke: Das ist die eigentliche Universität des Lebens.


Und dann Lappland. 
Diese Stille, die so laut ist, dass sie in deinen Knochen vibriert. Schnee, der wie Pulver in der Luft hängt. Rentiere, die dich aus einer anderen Welt zu beobachten scheinen. Und diese unendliche Weite, in der du begreifst: Hier bist du nur ein Gast. Ein kleiner Punkt in einer Landschaft, die nicht auf dich gewartet hat – und trotzdem Platz für dich macht.


Dieses Jahr kamen wir im Sommer, und der Norden überraschte uns mit einer Hitze, die selbst die alten Sami nur kopfschüttelnd hinnahmen. 
Kein Schnee, kein Eispanzer auf den Seen. Stattdessen wogten endlose Teppiche aus Moos und Blaubeeren in einer warmen, trockenen Luft, die nach Harz und Sonne roch.

Die Mitternachtssonne brannte wie ein geduldiger, nie endender Nachmittag. Es war, als hätte jemand die Welt auf Pause gedrückt, aber das Licht vergessen auszuschalten. Wir schliefen kaum, weil es nicht dunkel wurde.

Castor, mein Hund lief stundenlang über die weichen Tundraböden, kam immer wieder zurück, die Nase voller Gerüche, die nur er lesen konnte.

Der Hund und die Aufgabe


Castor ist kein Hobby – er ist meine neue Ausbildung, mein neues Projekt, mein Gefährte.

Ein junger Hund, gerettet aus einer Tötungsstation, mit einer Energie, die jeder Projektkrise Konkurrenz macht. Ein BorderCollie-American Staff-Magyar Vizsla-Berner-Spinone-Drahthaar Mischling. Er zwingt mich, Struktur zu haben, die ich Jahrzehnte hatte, aber eigentlich nicht mehr wollte.

Morgens raus, egal wie kalt, egal wie müde. Er bringt mich dazu, auch an Orten zu halten, an denen ich alleine vielleicht vorbeigefahren wäre. Und er zieht Menschen an – in Russland, Armenien, Lappland. Kinder laufen zu ihm, Hirtenhunde beschnuppern ihn, alte Frauen lachen, wenn er ihnen das Gesicht leckt.  Er ist der Türöffner, der Diplomatenpass, den kein Interimmanager-Visitenkartenhalter ersetzen kann.

Loslassen und Ankommen

Loslassen klingt immer so leicht. Doch es funktioniert nur, wenn man wirklich ankommt – in etwas Neuem. Man kann nicht ewig der Ex-Interimmanager sein, der „früher mal“ spannende Projekte hatte. Man muss sich selbst neu erfinden.

Ich bin jetzt der Reisende, der Overlander. Der, der den Staub von 45.000 Kilometern auf den Schuhen hat. Der, der in 21 Ländern übernachtet hat – mal in der Wildnis, mal bei Fremden, die zu Freunden wurden. Der, der die Sterne über der russischen Steppe gesehen hat und den Nebel, der sich über Lapplands Seen legt.

Ich habe nicht aufgehört zu arbeiten – ich habe nur aufgehört, für andere zu arbeiten. Jetzt arbeite ich für mich. Meine Reisen und mein Hund sind meine Projekte, mein Leben mein Auftrag.

Und ja, ich bin zu 100 % ausgelastet. An manchen Tagen auch mal 150%. Das reicht.

Dies sind keine Heldengeschichten. Es sind die kleinen Geschichten des Lebens nach der Leistung. Und vielleicht sind es genau diese, die am meisten Wirkung hinterlassen.

Der Artikel ist im Original erschienen im Quantum Business Magazin Seite 95 Ausgabe 09/2025  https://quantum-magazin.com/quantum-magazin/

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